Jeder sollte programmieren lernen. Ein Plädoyer für Code Literacy.

Wir sind umgeben von Code

Am Samstag wollte ich zum Media Markt. Auf Google suche ich die nächste Filiale. Dann gehe ich zu meinem Auto, öffne es mit dem Funkschlüssel, starte das GPS und fahre los. An der roten Ampel warte ich, bis sie grün wird. Im Media Markt nehme ich den Lift in den 3. Stock, wo die Kaffeemaschinen stehen. Ich suche mir eine aus und gehe zur Kasse und scanne am Self-Checkout den Barcode.

In dieser kurzen Zeit habe ich Google, einen Funkschlüssel, das GPS, Ampeln, einen Lift, eine Kaffeemaschine und den Self-checkout benutzt. Alle diese Dinge wurden von Menschen programmiert und funktionieren mit Code. Die erste automatische Ampel wurde 1963 in Toronto eingesetzt. Davor haben Polizisten die Ampeln manuell umgeschaltet. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Und in einigen Jahren werden selbstfahrende Autos und von Drohen gelieferte Produkte normal sein.

Wir sind umgeben von Code. Nicht nur in der “IT”, sondern im Retail, in der Mobilität, vielen weiteren Branchen und ganz allgemein im Alltag.

Die meisten Menschen haben jedoch keine Ahnung wie Programme funktionieren, können keinen Code lesen, geschweige denn schreiben. Und da kann man ihnen auch keinen Vorwurf machen. Damals im Gymnasium im Informatikunterricht lernten wir Powerpoint Präsentationen zu erstellen. Im Business Studium war Informatik leider nicht auf dem Stundenplan. Und mal ehrlich: die Informatik wurde lange Zeit nicht als attraktiver Arbeitsbereich dargestellt. In den Medien werden Informatiker immer noch oft als einsame Geeks gezeigt, welche den ganzen Tag vor dem Computer sitzen und nicht gerade mit sozialer Kompetenz glänzen.

Trotzdem sind wir alle von der Digitalisierung betroffen, geben Webseiten oder Apps in Auftrag und konsumieren fleissig unsere vielen Smartphone Apps. Zudem, werden regelmässig neue Gesetze wie das Nachrichtendienstgesetz verabschiedet. Nur wer versteht denn wirklich worum es dabei geht?

Es scheint, als sprechen viele eine Sprache, die sie nicht schreiben können und deren Grammatik sie nicht verstehen. Wir brauchen dringend mehr Leute, die Programme verstehen und Code schreiben können, sogenannte ICT-Fachkräfte. Laut aktuellster Studie des Berufsverbands ICT-Berufsbildung fehlen der Schweiz 25’000 ICT Fachkräfte bis 2024, 48% davon im Bereich der Softwareentwicklung. Aber nicht nur ICT-Fachkräfte brauchen digitale Fähigkeiten. Gemäss EurActiv-Studie werden in 90% aller Jobs mindestens ICT-Grundkenntnisse erwartet.

Jeder sollte programmieren lernen

Um den Fachkräftemangel zu beheben müssen wir in ICT-Bildung und Weiterbildung investieren. Jeder sollte programmieren lernen, weil wir ICT-Fachleute brauchen. Aber nicht nur deswegen. Einfach, weil es Spass macht, Kreativität fördert und einem eine neue Denkart eröffnet. Programmieren ermöglicht jedem mitzureden und zu -gestalten und sollte deshalb heute zur Allgemeinbildung gehören.

Was bringt Code Literacy?

Literacy bedeutet “Die Fähigkeit zu lesen und schreiben / Kompetenz oder Wissen in einem Fachgebiet” und Code bedeutet “Eine Zusammenstellung von Zahlen, Buchstaben und Symbolen”. Code Literacy bedeutet also “die Fähigkeit Code zu verstehen und zu schreiben”.

Jedoch geht es um viel mehr als nur Code lesen und schreiben zu können. Man könnte es mit den Levels einer Sprache vergleichen. Als Anfänger im A1-Kurs lerne ich mich in einfacher Weise zu verständigen, sofern der andere langsam und klar spricht und bereit ist zu helfen. In einer guten Sprachschule lerne ich nicht nur lesen und schreiben, sondern erfahre auch kulturelle Eigenheiten. Genau so, geht es bei Code Literacy nicht nur darum Code lesen und schreiben zu lernen, sondern auch zu verstehen, wie denn ein Computer überhaupt funktioniert.

Es geht auch nicht darum, dass alle bis zum C2-Level Kurse besuchen und Entwickler werden. Neue Möglichkeiten eröffnen sich bereits bei Absolvierung eines A1-Grundkurses. Wenn man zum Beispiel mit einem Entwickler zusammenarbeitet, verhilft das Grundverständnis zu einer besseren Kommunikation und Kollaboration.

Nebst verbesserter Kommunikation und Kollaboration verhilft Code Literacy auch zu kritischem Denken und Kreativität. Da man beim Programmieren immer ein reales Problem in Code übersetzt, trainiert man das logische Denken. Und wenn man “code literate” ist kann man mit Code kreieren und Nützliches erschaffen.

Die Vorteile von Code Literacy lassen sich als die 4 K’s zusammenfassen: Kommunikation, Kollaboration, Kritisches Denken und Kreativität. Diese 4 Ks sind laut WEF wichtige Kompetenzen fürs 21.Jahrhundert. Wenn man also programmieren lernt, trainiert man nebst den “hard skills” noch diese “soft skills”.

Wie vermitteln wir Code Literacy?

Online gibt es ein riesiges Angebot an Programmierkursen. Laut einer Studie von Katy Jordan schliessen jedoch nur ca 12.6% den jeweiligen Online-Kurs ab.

Ich absolvierte einen CAS, wo ich Informatikunterricht hatte. Leider war der Unterricht entmutigend. Erstens, stand der Professor volle acht Stunden vor uns, dozierte und wir schrieben seine Zeilen JAVA-Code nur ab. Zweitens, war unser Projekt, eine Schulnotenverwaltungs-App, nicht sonderlich nützlich und deswegen mässig motivierend. Und drittens, zur Demonstration unserer neuen Fähigkeiten mussten wir eine Prüfung auf Papier bestehen. Das Resultat der Informatikvorlesung war ernüchternd: die meisten meiner MitstudentInnen fanden die Informatik sei nichts für sie, weil sie zu doof seien oder es keinen Spass mache.

Überzeugt, dass jeder programmieren lernen kann, sogar sollte und es Spass machen kann, plädiere ich für eine andere Unterrichtsmethodik:

  • Weg vom Frontalunterricht, hin zu Einzel- und Gruppenarbeiten mit Coaching.
  • Weg von langweiligen Projekten, hin zu nützlichen, praxisorientierten und motivierenden Projekten.
  • Weg von Prüfungen, hin zu Projektpräsentationen und Portfolios.
  • Weg von akademischen Professoren, hin zu praxis- und lehrerfahrenen Programmier-Coaches

Ein gutes Beispiel eines Projektes sah ich am Programmier-Event, Rails Girls Zürich dieses Jahr. Eine Teilnehmerin musste jeden Monat manuell unzählige Lohnauszüge herunterladen und umbenennen. Während dem Wochenende erstellte sie gemeinsam mit einem Coach ein Programm, welches mit 20 Zeilen Ruby Code ihre Aufgabe automatisierte. Da sie ihr reales Alltagsproblem lösen wollte, war sie sehr motiviert, programmieren zu lernen.

Um mehr Leute vom programmieren zu begeistern und genügend ICT-Fachkräfte auszubilden sind alle gefragt:

  • Privatpersonen sollen sich im ICT-Bereich weiterbilden und programmieren lernen. Je nach Vorliebe kann man online, an einem Rails Girls Event, in einem Coding Bootcamp oder im traditionellen Informatikunterricht lernen.
  • Unternehmen sollen Weiterbildungen im ICT Bereich aktiv fördern, Auszeiten bewilligen, Finanzierungsunterstützung bieten und Praktikas vergeben, damit wir in Zukunft genügend ICT-Talents haben.
  • Schulen sollen Programmierkurse anbieten und idealerweise Programmieren, wie England, als Grundbildung ins Curriculum aufnehmen.
  • Kursanbieter sollen neue Unterrichtsmethoden und Angebote kreieren.
  • Politiker sollen Programmieren in den Schulen als Pflichtfach deklarieren.
  • Medien sollen mehr über Technologie schreiben und das Berufsbild mit Rollenmodellen attraktiv darstellen.

Dieser Artikel wurde zuerst im Yea(h)book 2017, dem Jahresbuch vom Center for Digital Business der HWZ, veröffentlich.